Heroes in Krefeld

Ulrich Vogel: Revoluzzer ohne Machtanspruch

Wenn er an die Stimmen denkt, die behaupteten, er würde nach seiner Karriere in ein Loch fallen, kann der selbsternannte Revoluzzer heute nur lachen.

Hilfsbereitschaft assoziieren wir meistens mit Selbstlosigkeit: St. Martin nimmt das eigene Frieren in Kauf, damit ein Bettler es etwas wärmer hat. Aber die Köpfe hinter den vielen Hilfsorganisationen und Vereinen, die sich für wohltätige Zwecke engagieren, bringen tatsächlich klassische Eigenschaften von Führungspersonen und einen starken Willen mit: Schließlich müssen sie Unterstützer gewinnen, Ehrenamtliche begeistern, und sich gegen die zahlreichen organisatorischen, bürokratischen und wirtschaftlichen Widrigkeiten durchsetzen. All diese Fähigkeiten nutzen ihnen freilich nichts, wenn hinter ihnen nicht die vielen freiwilligen Helder stehen, die bereit sind, ihre Freizeit zu opfern, anzupacken und die nötige Arbeit am Bedürftigen zu leisten. Menschen wie Ulrich Vogel, der nach seiner langen und erfolgreichen Karriere als Vorstand der Betriebskrankenkasse Krupp eine neue Beschäftigung suchte.

Das Treffen mit dem 86-Jährigen endet nach zwei gesprächigen Stunden, wie es begonnen hat: Mit einem herzlichen Lächeln, einem festen Händedruck und dem Ratschlag, doch nochmal darüber nachzudenken, ob er denn wirklich der richtige Mann für diesen Artikel sei. Ulrich Vogel hält sich nicht für etwas Besonderes: Er war ja nur einer von vielen, die sich für die Krefelder Tafel und als Berater bei der katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB) engagiert haben. Dass er in einem Artikel als „Held“ hervorgehoben werden soll, ist ihm durchaus ein bisschen unangenehm. Und er hat ja nicht Unrecht damit: So wie er engagieren sich tagtäglich Tausende von Menschen in ganz Deutschland in Vereinen und Organisationen für das Wohl anderer, ohne dafür eine Gegenleistung oder auch nur ein Lob zu erwarten. Doch längst nicht alle von ihnen können auf ein so spannendes Leben zurückblicken wie Ulrich Vogel: Ein Leben, in dem Solidarität immer eine bedeutende Rolle spielte.

„Eigentlich war es mein Wunsch, Maler zu werden“, beginnt Vogel seine Geschichte. „Aber meine Eltern waren strikt dagegen. Sie wollten, dass ich etwas Vernünftiges lerne.“ Aus Protest brach der junge Ulrich die Schule noch vor dem Abitur ab und arbeitete als Hilfsarbeiter auf dem Bau, bis seine Eltern ihn schließlich um einen Gefallen baten: ein Praktikum bei der Deutschen Bank oder der IKK in Krefeld. Wenn ihm das partout nicht gefalle, würden sie ihm danach bei seiner Berufswahl keine Steine mehr in den Weg legen. „Die Deutsche Bank kam für mich nicht infrage, die war mir zu hochnäsig, also begann ich bei der Krankenkasse. Und die Tätigkeit faszinierte mich in den ersten Wochen meines Praktikums so sehr, dass ich mich zu einer Lehre entschloss. Die Gesetzestexte, mit denen ich mich beschäftigen musste, waren für mich lebendig, ich las sie und verstand sofort, was gemeint war.“ Der Malertraum löste sich in Luft auf, Vogel rührte nie wieder einen Pinsel an: „Meiner Meinung nach kann man nur eine Sache richtig gut machen und das war immer mein Anspruch!“ Er entwickelte einen enormen Ehrgeiz in seinem Beruf, absolvierte nach der Ausbildung in Rekordzeit zwei Verwaltungsprüfungen und entschloss sich schließlich, in einem dreijährigen Abendstudium noch das Verwaltungsdiplom nachzulegen. „Ich arbeitete bis 17 Uhr bei der AOK, setzte mich in die Straßenbahn nach Düsseldorf, studierte dort bis halb elf abends und fuhr dann wieder nach Hause. Und das dreimal in der Woche. Weil mir in den Vorlesungen regelmäßig die Augen zufielen, holte ich mir die Erlaubnis ein, sie mit einem Tonbandgerät aufzuzeichnen. Am Wochenende hörte ich die Bänder ab und schrieb gleichzeitig mit: So lernte ich viel effektiver.“ Vogel erwarb sein Diplom in Regelstudienzeit, was für seine Laufbahn bei der AOK sehr förderlich war: Er rückte ins zweite Glied des Unternehmens vor und bekleidete mehrere Jahre lang den Posten des Personalratsvorsitzenden, bis er mit einem neuen Vorgesetzten aneinandergeriet und freiwillig den Hut nahm. Schon nach kurzer Zeit fand er einen neuen Arbeitgeber, dem er bis zum Ende seiner beruflichen Laufbahn die Treue hielt: die Betriebskrankenkasse Krupp, in der er zum 1. Januar 1980 als stellvertretender Geschäftsführer einstieg.

Ulrich Vogel erzählt seine Geschichte mit niederrheinischem Akzent, munter, lebendig und mit erstaunlichem Erinnerungsvermögen: Er weiß noch ganz genau, wie seine Professoren in der Uni hießen, mit denen er vor immerhin über sechzig Jahren zu tun hatte, oder in welchem Jahr die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall eingeführt wurde (1971). Noch rasanter und begeisterter erzählt er, als es um seine Tätigkeit bei der BKK Krupp geht: „Dort räumte ich ordentlich auf“, lacht der gut gelaunte Pensionär, der sich selbst als „Revoluzzertyp“ bezeichnet. Er identifizierte sich total mit seinem neuen Arbeitgeber und den Menschen, deren Interessen er vertrat – und scheute nicht die Auseinandersetzung mit den Höher- und Bessergestellten: „In meiner aktiven Zeit überführte ich über 100 Ärzte der Falschabrechnung und nahm so Millionen für die BKK Krupp ein. Als ich mit 65 in Rente ging, atmeten ganz sicher viele Mediziner in Essen auf“, schmunzelt er. Doch obwohl er es bis weit nach oben brachte, war es nie die Macht, die ihn reizte: „Ich fühlte mich immer solidarisch mit den Arbeitern und Angestellten und verstand mich als deren Partner und Dienstleister. Mein Ziel war es, für sie das Beste herauszuholen.“ Man kann sich gut vorstellen, mit welchem Enthusiasmus der gebürtige Krefelder, der über 20 Jahre lang jeden Tag mit dem Auto nach Essen pendelte, seinen Beruf ausübte: Seine Freude über längst zurückliegende Leistungen und Erfolge ist immer noch ungebrochen spürbar, wenn er von ihnen berichtet. Kein Wunder, dass er bis zum letzten Tag arbeitete und 2002 keinen Tag früher als nötig in Ruhestand ging. „Hinter meinem Rücken flüsterten alle: ,Der fällt in ein Loch, wenn er in Rente geht.‘ Pustekuchen!“

Die Anstecknadel ist ein Andenken an Vogels Zeit als Fahrer der Krefelder Tafel.

Auf eine Zeitungsanzeige meldete sich der pensionierte Ulrich Vogel bei der Tafel, die freiwillige Helfer suchte. „Einen offenen Verwaltungsposten gab es dort leider nicht, also engagierte ich mich als Fahrer. Immer mittwochs fuhr ich die Partnerbetriebe ab, sammelte Lebensmittel ein und brachte sie ins Lager. Das war harte Arbeit, denn da kamen pro Tag locker 600 bis 800 Kilo an Ware zusammen, die ich ein- und ausladen musste“, beschreibt Vogel seine Aufgabe. Auch nach seinem Abschied nach 17 langen Jahren geht die Ära Vogel bei der Tafel weiter: Ulrich vererbte seine Stelle nämlich kurzerhand an seinen Sohn Thomas. Als noch wichtiger schätzt Vogel aber sein Engagement für das Krefelder Arbeitslosenzentrum und die KAB ein: „Die KAB suchte Helfer, die Arbeitslose bei ihren Terminen im Jobcenter begleiteten, um später als Zeuge fungieren zu können. Ich kannte die Gesetze und Rechte, um die es ging, und wusste, dass das Jobcenter nicht immer korrekt arbeitete“ – in Vogels Augen fun- kelt es kurz – „also ging ich mit den Arbeitslosen mit: Aber nicht, um passiv zuzuhören, sondern um mitzumischen! Und ich kann Ihnen sagen: Das Jobcenter bekam ordentlich was zu tun!“ Hunderten von Arbeitslosen stellte Vogel sein großes Rechtsverständnis, sein ausgeprägtes Gerechtigskeitsempfinden, aber auch seine Streitlust zur Verfügung und kämpfte dafür, dass sie das bekamen, was ihnen zustand. „Diese Menschen sind ja keine Bittsteller. Es geht um ihre Ansprüche und Rechte als Bürger. Ich habe den Mitarbeitern des Arbeitsamtes klargemacht, dass sie kein Wohlfahrtsunternehmen, sondern ein Dienstleister sind.“ Bei aller Solidarität wirkte Vogels Rechtsempfinden aber immer in beide Richtungen: „Ich vertrat niemanden, der es nicht verdient hatte, denn natürlich gehen mit Ansprüchen und Rechten immer auch Pflichten einher“, gesteht er. Hartz-IV-Empfänger mit Familie, die für die Wohnungseinrichtung nur einen Küchenstuhl bekamen, obwohl ihnen vier zustanden, oder Menschen, die sich ungerechtfertigten Sanktionen und Kürzungen gegenübersahen, konnten sich seiner Hilfe aber hundertprozentig sicher sein. Im Zweifel zog er mit ihnen sogar bis vors Sozialgericht: „Ich bin sehr stolz darauf, sagen zu können, dass ich keinen einzigen Prozess verlor. Es kam hier und da zu einem Vergleich, aber verloren habe ich nie.“

Nach zwei Stunden hat Ulrich Vogel seine Geschichte erzählt: „Sehen Sie, wie wenig wir jetzt eigentlich über meine ehrenamtliche Tätigkeit gesprochen haben?“, zwinkert er siegessicher. Gemessen an seiner beruflichen Laufbahn fällt sein Engagement für die Tafel oder die KAB tatsächlich kaum ins Gewicht, da hat er sicherlich Recht. Aber wer will bei ihm eine so scharfe Trennlinie ziehen zwischen Beruf und Ehrenamt? Ulrich Vogel hat sich über 60 Jahre lang für seine Mitmenschen eingesetzt. Nicht für Ruhm und nicht für Macht. Sondern einfach, weil es für ihn das Richtige war.

 Fotos: Felix Burandt / Grafik: Michael Strogies
Artikel teilen: